Noch über 63 Jahre nach seiner Befreiung aus Mauthausen ließ meinen Vater, Sol Finkelstein, die Unsicherheit darüber, was mit seinem Vater Jacob Noah Finkelstein passiert war, nicht los. In den letzten Tagen des Lagers wurden sie auf tragische Weise voneinander getrennt. Der damals 19-jährige Sol wusste nur, dass Jacob, 47, auf einen Todesmarsch aus Mauthausen getrieben worden und bald darauf irgendwo gestorben war. Sol quälte der Gedanke, dass er seinem Vater hätte helfen können, die wenigen letzten Tage von Mauthausen zu überleben, wenn sie nur zusammen geblieben wären.
Zu Beginn des Krieges waren Jacob und seine Söhne Sol und Joe polnische Juden, die in Radom lebten. Über fünf Jahre lang waren sie gemeinsam in den verschiedensten Nazi-Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslagern inhaftiert, darunter auch in Auschwitz. Sie überlebten, indem sie sich gegenseitig unterstützten. Als Auschwitz am 17. Jänner 1945 evakuiert wurde, durchlitten sie einen brutalen Todesmarsch durch das frostige Polen und wurden nach Mauthausen deportiert. Nach ihrer Ankunft am 2. Februar wurden sie von den Nazis dazu gezwungen, nachts acht Stunden lang nackt stehen zu bleiben, während sie mit eiskaltem Wasser abgespritzt wurden, um die schwächsten Opfer zu erledigen. Am 7. März 1945 wurden sie ins Außenlager Hinterbrühl (einem Teil des Außenlagerkomplexes Floridsdorf) außerhalb Wiens überstellt, um untertage in der geheimen „Seegrotte“, einem aufgelassenen Bergwerk, an der Montage von Kampfjets zu arbeiten. Als sich die Sowjetische Armee näherte, wurden die Finkelsteins auf einem zweiten Todesmarsch, der sich sieben Tage im kalten Aprilregen ohne Essen, Wasser, Mäntel oder Decken durch Österreich schleppte, nach Mauthausen zurückgebracht.
Unmittelbar nach ihrer Rückkehr ins Hauptlager schlichen sich Sol und Joe aus der Quarantäne und gaben sich in den Kriegsgefangenenbaracken der spanischen Soldaten als politische Gefangene aus, um besseres Essen zu erhalten. Ihr Vater blieb bei den jüdischen Häftlingen, doch konnten sie ihn heimlich besuchen, um ihm Essen zu bringen. Jacob wurde bald mit den anderen Juden ins Zeltlager gebracht, ein notdürftiges Gefängnis aus Zelten unmittelbar außerhalb des Hauptlagers. Als politische Häftlinge verkleidet gelang es Sol und Joe, sich im Lager zu bewegen und ihre heimlichen Besuche ins Zeltlager fortzusetzen. Einmal entdeckte ein SS-Angehöriger Sol und Joe, als sie Suppe ins Zeltlager trugen, und schlug Sol hart. Er schrie: „Judenfreunde!“ Der SS-Offizier hätte Sol und Joe mit Sicherheit getötet, hätte er gewusst, dass sie Juden waren und sich nur als politische Gefangene und „Prominente“ verkleidet hatten.
Als die alliierten Armeen näher rückten und die Befreiung nur mehr Tage entfernt war, begann die SS, die Juden auf Todesmärschen aus dem Lager zu entfernen. Gerüchte unter den Häftlingen besagten, dass die SS die Juden an einer unbekannten Stelle ermorden würde. Als er hörte, dass die endgültige Liquidierung am 28. April 1945 stattfinden würde, drängte Jacob seine Söhne, zum Hauptlager Mauthausen zurückzukehren. „Rettet euch selbst, wenn ihr könnt. Ich will nicht meine ganze Familie verlieren. Berichtet der Welt, was hier passiert ist.“ Sol und Joe weigerten sich, ihn zu verlassen, und stimmten nur zu, mehr Essen aus dem Hauptlager zu holen und sofort zurückzukehren. Bevor sie zurückkehren konnten, ordnete die SS eine Sperre an und schickte Jacob und die letzten jüdischen Häftlinge auf einen Todesmarsch aus dem Zeltlager.
Sol und Joe waren Zeugen eines Massakers an 500 russischen Offizieren in Mauthausen geworden, das als „Mühlviertler Hasenjagd“ bekannt wurde und in dem die sowjetischen Gefangenen Mauthausen entkamen, um von Nazisoldaten und der örtlichen Bevölkerung gejagt zu werden. Die Körper dieser ermordeten Häftlinge wurden von Sol und Joe in einem Massengrab begraben. Derart als Totengräber Zeugen der Nazi-Kriegsverbrechen, wurden Sol und Joe zur Exekution selektiert, als die amerikanische Armee näherkam. Sie überlebten, indem sie sich unter einem Leichenhaufen versteckten. Doch Sol empfand keine Freude, als er an diesem Tag seine Freiheit wiedererlangte, weil er seinen Vater niemals wiedersah und sich selbst dafür die Schuld gab.
Im Jahr 2008 entdeckte ich, als ich Sols Geschichte für seine Memoiren recherchierte, vordem unbekannte Informationen zum Schicksal meines Großvaters. Ich erfuhr, dass Jacob auf den Todesmarsch aus dem Zeltlager von Mauthausen ins Konzentrationslager Gunskirchen gezwungen wurde, ein Außenlager in ungefähr 40 Kilometer Entfernung. Hunderte, wenn nicht Tausende Juden starben dort nach drei Todesmärschen aus Mauthausen. Als Jacob dort am 2. oder 3. Mai ankam, war das Lager Gunskirchen mit bis zu 17.000 hungernden Häftlingen überfüllt, die nichts zu essen und zu trinken hatten, keinerlei Sanitäreinrichtungen nutzen konnten und vom Typhus gezeichnet waren. Als die Amerikaner das Lager am 4. Mai befreiten, waren sie entsetzt über den Gestank und die Hunderten von Leichen und „lebenden Skeletten“, die sie vorfanden. Sie transportierten viele der Überlebenden, unter ihnen auch Jacob, schnell in ein Krankenhaus in der kleinen Stadt Wels. Dort starb er am 8. Mai 1945 in Folge von Hunger und Typhus.
Jacob wurde in einem unbezeichneten Grab am Welser Stadtfriedhof begraben, gemeinsam mit 1.035 anderen jüdischen Opfern aus Gunskirchen, die kurz nach der Befreiung starben. Für die nächsten 56 Jahre waren diese Gräber nur ein Feld von unbezeichnetem, offenen Gras. Im Jahr 2001 errichtete die Stadt Wels hier ein Holocaustdenkmal, auf dem die Namen aller bekannten Opfer, unter ihnen auch Jacob Finkelstein, eingeschrieben wurden.
Mein Vater Sol war tief bewegt, als ich ihm berichtete, was mit seinem Vater passiert war und ihm ein Foto des Welser Denkmals mit dem Namen seines Vaters zeigte. „Das spült die Schuld weg, die ich hatte. Ich dachte, er sei gestorben, weil ich ihn allein gelassen hatte und niemand da war, um um ihn zu sorgen. Jetzt weiß ich, dass man sich um ihn gekümmert hat und er im Krankenhaus starb, und dass es nicht mein Verschulden war.“ Sol war auch erleichtert, das tatsächliche Todesdatum zu erfahren, um den Jahrestag des Todes seines Vaters angemessen wahrnehmen zu können.
Am 8. Mai 2009 fuhr meine Familie nach Österreich, um Mauthausen, Gunskirchen und Wels zu besuchen. Wir legten einen Grabstein für meinen Großvater nieder und hielten mit einem Rabbi eine jüdische Trauerfeier ab. Jacobs Urenkel hielt eine Grabrede. An diesem Abend nahmen wir an der jährlichen Gedenkfeier teil, die in Wels seit 2001 abgehalten wird. Es war das erste Mal, dass Familienmitglieder eines der Opfer von Gunskirchen teilnahmen, die in Wels begraben waren.
Kurz danach entdeckte das United States Holocaust Memorial Museum eine Fotografie von Jacob. Sechzig Jahre waren vergangen, seit Sol das Gesicht seines Vaters zum letzten Mal gesehen hatte, und es war das erste Mal für mich. Mein Vater sah sich das Foto an und sagte leise: „Ja, das ist mein Vater.“ Dann sprach er zu ihm: „Vergib mir, Papa.“ Er holte mehrmals tief Luft und fuhr fort: „Mein ganzes Leben lang lebe ich in Gedanken mit dir.“[1]
Joseph S. Finkelstein
Joseph S. Finkelstein ist der Enkel von Jacob Noah Finkelstein und der Sohn des Mauthausen-Überlebenden Sol Finkelstein. Er lebt als Anwalt in Philadelphia, Pennsylvania, USA. Gemeinsam mit seinen Eltern Sol und Goldie Finkelstein und dem Autor Jerry Jennings hat er an den Recherchen und der Publikation der Memoiren seiner Eltern teilgenommen, die unter dem Titel I Choose Life erschienen sind.
Aus dem Englischen von Andreas Kranebitter
[1] Ein Video dieses umwerfenden Moments ist unter dem Titel Yes, That’s My Father auf www.worldmemoryproject.org zu sehen. Sol Finkelsteins Memoiren, „I Choose Life“ (von Jennings und Finkelstein, Xlibris 2009), ist im Online-Buchhandel verfügbar.
For more than 63 years after his liberation from Mauthausen, my father, Sol Finkelstein, was haunted by the uncertainty of what happened to his father, Jacob Noah Finkelstein. Tragically separated in the camp’s final days, Sol, aged 19 at the time, knew only that Jacob, 47, was marched out of Mauthausen and died somewhere soon after. Sol was tormented by the belief that he could have helped his father survive those last few days in Mauthausen if only they had stayed together.
At the outbreak of war, Jacob and his sons Sol and Joe were Polish Jews living in Radom. For more than five years they were imprisoned together in multiple Nazi ghettos, labour camps and concentration camps, including Auschwitz. They survived by supporting each other. When Auschwitz was evacuated on 17 January 1945, they endured a brutal death march across frozen Poland and were sent to Mauthausen. Upon arrival on 2 February, the Nazis forced them to stand naked for eight hours through the night, while spraying them with freezing water to finish off the weakest victims. On 7 March 1945 they were transferred to the Hinterbrühl subcamp (part of the Floridsdorf camp complex) outside Vienna, to work underground in a secret ‘Sea Cave’, an abandoned mine, manufacturing fighter jet components. As the Russian army approached, the Finkelsteins were marched back to Mauthausen on a second death march, trudging seven days across Austria without food, water, coats, or blankets in the cold rain of early April.
Upon returning to the main camp, Sol and Joe slipped out of quarantine and masqueraded as political prisoners in the POW barracks for Spanish soldiers in order to gain better food. Their father remained with the Jewish prisoners, but they were able to visit him clandestinely to bring him food. Jacob was then moved with the other Jews to the Zeltlager, a makeshift tent prison just outside the main camp. Disguised as political prisoners, Sol and Joe were able to move around somewhat to continue their secret visits to their father in the tent-camp. One time, a SS commander caught Sol and Joe carrying soup to the Zeltlager, and severely beat Sol, screaming ‘Juden Freunde!’ (‘Jew lovers!’). The SS officer would surely have killed Sol and Joe if he had known they were Jewish and not disguised as political prisoners dressed as ‘Prominents’.
As the Allied armies drew closer, with liberation just days away, the SS began to march the Jews out. Rumours among the prisoners had it that the SS was going to kill the Jews in an unknown location. Hearing that the final liquidation would occur on 28 April 1945, Jacob urged his sons to return to the main Mauthausen camp. ‘Save yourselves, if you can. I don’t want to lose my whole family. Tell the world what happened here.’ Sol and Joe refused to leave him, agreeing only to get more food from the main camp and immediately return. Before they could get back, the SS ordered a lockdown and marched Jacob and the last Jewish prisoners out of the tent camp.
Sol and Joe were witness to the massacre of 500 Russian officers at Mauthausen, in the course of the so-called ‘Mühlviertel Hare Hunt’, a famous historical event in which the Soviet prisoners escaped Mauthausen, only to be hunted down and murdered by Nazi soldiers and the local population. The bodies of these murdered prisoners were buried in a mass grave by Sol and Joe. Such grave-digging made them witnesses to this Nazi war crime, and so Sol and Joe were selected for execution by the SS as the American army closed in. They survived by hiding under a stack of corpses until the liberation on 5 May 1945. But Sol felt no joy in gaining his freedom that day, because Sol never saw his father again and blamed himself.
In 2008, while researching Sol’s history for his memoir, I uncovered previously unknown documentation concerning my grandfather’s fate. I learned that Jacob had been marched from the Mauthausen tent camp to Gunskirchen concentration camp, a subcamp of Mauthausen about 25 miles away. Hundreds, if not thousands of Jews died during three death marches from Mauthausen. By the time Jacob arrived on 2 or 3 May, the Gunskirchen camp was overcrowded with 17,000 starving prisoners, lacking any food, water or sanitation, and riddled with typhus. When the Americans liberated the sub camp on 4 May, they were horrified by the stench and hundreds of corpses, and the ‘living skeletons’ they found. They quickly transported many of the survivors, including Jacob, to a hospital in the nearby small city of Wels. There he died on 8 May 1945, from typhus and starvation.
Jacob was buried in an unmarked grave in the Wels municipal cemetery, along with 1,035 other Jewish victims from Gunskirchen who died shortly after liberation. For the next 56 years, these graves were just a field of unmarked, open grass. In 2001, the City of Wels dedicated a Holocaust memorial at the site, inscribed with the names of any known victims, including Jacob Finkelstein.
My father Sol was deeply moved when I told him what had happened to his father and showed him a photograph of the Wels memorial with his father’s name. ‘This washes away the guilt I had. I thought he died because I left him alone and there was no one to care for him. Now I know that he was cared for, and died in a hospital, and it wasn’t my fault.’ Sol was also relieved to know the actual date of death, so he could properly observe the Yahrzeit (anniversary date) of his father’s death.
On 8 May 2009, my family travelled to Austria to visit Mauthausen, Gunskirchen and Wels. We placed a gravestone for my grandfather and conducted a Jewish funeral service with a rabbi. Jacob’s great-grandson delivered a graveside eulogy. That evening, we joined the annual memorial service held in Wels since 2001. It was the first time that family members of any of the Gunskirchen victims buried in Wels had attended.
Shortly thereafter, the US Holocaust Memorial Museum discovered a photograph of Jacob. Sixty-five years had passed since Sol had last seen his father’s face, and it was the first time ever for me. Looking at the photo, my father whispered, ‘Yes, that’s my father.’ Then he spoke to his father: ‘Forgive me, Dad.’ He took several deep breaths and continued, ‘I live with you in my mind all of my life.’[1]
Joseph S. Finkelstein
Translation into English: Joanna White
[1] A video of this amazing moment, ‘Yes, That’s My Father’ is available at www.worldmemoryproject.org. Sol Finkelstein’s memoirs, I Choose Life, by Jennings and Finkelstein (Xlibris 2009) can be found in online book stores.