Wenn ich schon über das wahre Gesicht in solchen extremen Umständen wie im KZ berichte, will ich auch von der Familie Török erzählen, bevor die dicke Staubschicht der Gleichgültigkeit und des Vergessens ihr Andenken für immer verdeckt.
Die Familie Török, bestehend aus Vater und zwei Söhnen[1] – über den weiblichen Teil der Familie wusste ich nichts –, ungefähr 16- und 18-jährig, waren Christen und kamen wegen einer in ihre Familie verirrten jüdischen Großmutter in die Verbannung ins Melker KZ. Sie stammten aus einer Kleinstadt am Fluss Marosch [Mureș] in der Nähe Neumarkts [Târgu Mureș].
Nach der Befreiung dachte ich an sie, wo immer ich nur ein angenagtes Stück Brot sah. – ‚Mein Brot hat man geklaut, Vater!‘, hörte ich eines Morgens von der Bettstelle her, wo die Familie schlief. Aufregung, Herumsuchen. Und siehe da, das Brot wurde wiedergefunden. Ein schon von Hunger gezeichneter Greis mit weiten tiefsitzenden Augen, er konnte so um die 40 sein, sah aber wie ein 70-Jähriger aus, mit kahlem Kopf, mit ein paar dünnen Haarsträhnen stand da und reichte mit zitternder Hand das Diebesgut Brot dem jungen Török.
Der größte Teil des Brotes war noch vorhanden, denn der Alte konnte es in seinem zahnlosen Mund nur mit Mühe zerkauen. Wie soll ich es nur beschreiben – diese Rodins Meißel würdige Menschengruppe, wie sie ein paar Sekunden vor meinen Augen standen, als ein mildernder Umstand für die Menschheit. Aus der Familie Török langte keiner nach dem hingehaltenen Brotstück. Sie drehten sich wortlos um und ließen das Brot – das Leben – für diesen Tag in den Händen des Diebes.
Mit dieser Episode möchte ich verständlich machen, wie diese kleine Familie zugrunde ging, zuletzt der Vater, der die Söhne überlebte. Wie hat er nur seine letzten Tage erlebt, allein, bevor er auch starb? Sie waren für eine anständigere Welt geschaffen und mussten in dieser rücksichtslosen Wildnis mit ihrer humanen Weltanschauung bald untergehen.
Ladislaus Szücs
Ladislaus Szücs ist Überlebender der KZ Mauthausen und Melk und Autor des Buches Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager (Frankfurt/Main 1995).
Aus: Ladislaus Szücs: Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager (Frankfurt am Main 1995), S. 42–44.
[1] Anm. d. Hg.: Der zweite Sohn von Hermann Török, über den Ladislaus Szücs hier berichtet, konnte nicht namentlich identifiziert werden.
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Sandor Török wurde am 5. Juli 1925 in Kolozsvár (Cluj-Napoca) in Rumänien als Sohn von Hermann (*1892) geboren. Er hatte vermutlich einen Bruder, über den aber nichts bekannt ist. Sandor war als Arbeiter tätig.
Alle drei Töröks wurden im Frühjahr 1944 wegen ihrer jüdischen Abstammung in das KZ Auschwitz-Birkenau in Polen deportiert. Sie wurden dort als „jüdische“ Häftlinge ungarischer Nationalität registriert.
Im Juni 1944 wurden sie über das KZ Mauthausen in das Außenlager Melk überstellt. Es ist nichts genaues über Sandors Arbeitsposition in diesem Lager bekannt.
Sandor wurde aber bereits im Juli 1944 nach Mauthausen zurück transportiert und dort wegen Phlegmonen, einer eitrigen Hautentzündung, in das Sanitätslager eingewiesen.
Derartige Rücktransporte aus den Außenlagern zurück in das Hauptlager betrafen vor allem Häftlinge, die zu krank oder zu schwach waren, um weiterhin als „arbeitsfähig“ zu gelten, und die damit für die SS keinen Nutzen mehr hatten. Zahlreiche dieser Häftlinge wurden durch Essensentzug und Vernachlässigung zu Tode gebracht oder dezidiert ermordet.
Das geschah auch im Rahmen der „Aktion 14f13“. Diese bezeichnete die Selektion von „alten“, „kranken“ und nicht mehr „arbeitsfähigen“ Häftlingen, sie wurden in sogenannte „Tötungsanstalten“ verlegt und ermordet, die zuvor auch für die Tötung von PatientInnen psychiatrischer Anstalten im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasie benutzt worden waren.
Auch Sandor fiel dieser Aktion zum Opfer. Er wurde von Mauthausen in die „Tötungsanstalt“ Hartheim bei Linz transportiert. Sandor Török wurde dort am 5. Dezember 1944 im Alter von 19 Jahren in der Gaskammer ermordet.
Sein Vater Hermann Török kam im KZ Melk am 6. September 1944 ums Leben.
Christina Kandler, 2022, Verein MERKwürdig – Zeithistorisches Zentrum Melk
Quellen:
Internationaler Suchdienst, Arolsen Archives, Einträge für Mitglieder der Familie Török, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/search (abgerufen am 26.7.2022).
United States Holocaust Memorial Museum, Holocaust Survivors and Victims Database, Einträge für Mitglieder der Familie Török, online unter: https://www.ushmm.org/online/hsv/person_advance_search.php (abgerufen am 26.7.2022).
Yad Vashem, Internationale Holocaust Gedenkstätte, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, Einträge für Mitglieder der Familie Török, online unter: https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de (abgerufen am 26.7.2022).
Bertrand Perz: Das Projekt „Quarz“. Der Bau einer unterirdischen Fabrik durch Häftlinge des KZ Melk für die Steyr-Daimler-Puch AG 1944-1945. Innsbruck/Wien 2014.
Ladislaus Szücs: Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager. Frankfurt am Main 1995.
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial.
If I am to write about the true face of humanity in circumstances as extreme as those in the concentration camp, then I also want to tell of the Török family before indifference and forgetting settle over their memory forever like a thick layer of dust.
The Török family, consisting of a father and two sons[1] – I did not know anything about the female members of the family – aged about sixteen and eighteen, were Christians whom a Jewish grandmother who had stumbled into their family had caused to end up in banishment in Melk concentration camp. They came from the small town on the river Marosch (Mureş) near to Neumarkt (Târgu Mureş).
After liberation I thought of them whenever I saw a piece of bread, even a gnawed one. – ‘My bread’s been stolen, father!’ I heard one morning from the bunk where the family slept. Commotion, a search. And look, the bread was found again. An old man already marked by hunger with eyes that sat deep in his face, he might have been around forty but already looked like a seventy-year-old, with a bare head, with a few thin strands of hair, stood there and offered the stolen bread to the young Török, his hand trembling.
Most of the bread was still there since the old man had difficulty chewing it in his toothless mouth. I don’t know how to describe it – this group of people worthy of Rodin’s chisel who stood before me for a few seconds, as a mitigating circumstance for humanity. No one in the Török family reached for the proffered piece of bread. Without a word they turned and left the bread – and life – in the thief’s hands for that day.
I want to make it clear through this episode how this small family died, the father last of all, who survived his sons. How did he experience his final days, alone, before he too died? They were made for a more decent world and with their humanitarian world view soon had to perish in this ruthless wasteland.
Ladislaus Szücs
From: Ladislaus Szücs: Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager [Roll call. A doctor in the concentration camp] (Frankfurt/Main 1995), pp. 42–44.
Translation into English: Joanna White
[1] Editor’s note: Hermann Török’s second son, about whom Ladislaus Szücs writes here, could not be identified by name.