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Леба Улянский / Elliokum (Leva) Uljansky 1896 - 1944 Bearbeiten

Geboren 6.12.1896 in Mogilew
Gestorben 2.11.1944 in Melk

Biografie

Elliokum (Ljowa) Girschewitsch Uljanski

Familienangehörige: Stand per 22. Juni 1941:

Mutter: Sora Schifra - bei der Evakuierung zu Tode gekommen

Vater: Girsch Schmuel - vor dem Krieg verstorben

Schwestern: Chawa, Riwa, Vera, Basia [1]

Brüder: Jakow (Jack Olan ist vor der Revolution in die USA ausgewandert), Mosche (im Zweiten Weltkrieg vermisst)

Ehefrau: Sima Mjasnikowa

Sohn: Semjon, geb. 1927

Tochter: Rosa, geb. 1934

 

Ilja Uljanski, Enkel

 

WORAN MICH EIN ALTES FOTO ERINNERT

 

Ich stelle fest, dass ich aus irgendeinem Grund sehr selten in Erinnerungen schwelge. Nur ab und zu. Nur im Zusammenhang mit Daten, Ereignissen, die mein Gedächtnis anregen.

Kürzlich sprach meine Frau davon, dass sich am 6. Dezember der Geburtstag meines Vaters, Lew Girschewitsch Uljanski, jährt. Wir sollten Kerzen anzünden und uns als Familie um den Tisch versammeln, denn trotz des schändlichen Schicksals, das meinen Vater im Alter von knapp 48 Jahren das Leben kostete, ist er immer bei uns.

Wir sind nicht wie die meisten Olim [2] nach Israel gelangt. Im Oktober 1991 verließen wir Moskau in Richtung Österreich, um noch einmal das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen zu besuchen, wo der Häftling Nr. 86083 - mein Vater - am 2. November 1944 verbrannt wurde, und um nach jüdischem Brauch kleine Steine auf die Gedenktafel zu legen, die unsere Familie dort errichtet [3] hat.

Wir kehrten nicht nach Moskau zurück.

Über die Wiener Zweigstelle der Sochnut [4] reisten wir nach Israel aus.

Jeder, der schon einmal mit sowjetischen Zollbeamten zu tun hatte, weiß, was das bedeutet. Alles, was nicht für den persönlichen Gebrauch bestimmt war, kam nicht in Frage. Aber wir hatten einige Fotos mit nach Wien genommen. Auf einem davon sind meine Eltern und die Geschwister meines Vaters zu sehen.

Wie sind ihre Schicksale verlaufen? Sie waren zum großen Teil durch das militärische Schicksal unserer Heimatstadt Mogiljow [5] in Weißrussland vorbestimmt. In der Nähe von Mogiljow fanden schwere Kämpfe statt, über die Konstantin Simonow schrieb, der daran teilgenommen hatte.

Die Stadt war umzingelt, und es war schwierig, aus ihr zu entkommen, sowohl militärisch als auch zivil. Es sei darauf hingewiesen, dass vor dem Krieg viele Juden in Mogiljow lebten, von denen die meisten ihr Leben verloren. Davon zeugt das Schicksal unserer Verwandten, deren Gesichter auf diesem alten Foto abgebildet sind.

Wie es sich gehört, [sind] in der Mitte die Eltern meines Vaters [zu sehen] [6], Girsch und Schifra Uljanski. Großvater Girsch starb noch vor dem Krieg. Großmutter Schifra starb bei der Evakuierung, nachdem sie von einem Auto angefahren worden war.

Links von meinem Großvater - Basia, die Schwester meines Vaters. Direkt über ihr - ihr Ehemann Bejnes. Bei der Evakuierung trug Basia zwei Töchter zu Grabe - meine gleichaltrige Olenka und die kleine Firotschka. Das Schicksal von Bejnes ist bis heute unbekannt.

Rechts von Bejnes - Riwa, eine weitere Schwester meines Vaters. Ihr Mann Solomon ist ein Kriegsveteran. Neben Riwa steht mein Vater. Vor dem Krieg arbeitete er als Schaftstepper, das heißt, als Maßschuhmacher. Er war nicht wehrdiensttauglich und gehörte der örtlichen Flugabwehrtruppe an.

Am Morgen des 22. Juni 1941, noch vor der Rundfunkansprache des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten W. Molotow und drei bis vier Tage vor unserer überstürzten Flucht, wurde mein Vater - wie ich heute weiß - in Alarmbereitschaft versetzt. Zwei- oder dreimal rannte er mit einem Gewehr und einer Gasmaske nach Hause, alarmiert durch das, was geschah.

An dem Tag, an dem meine Mutter mich und meine jüngere Schwester Rosa an den Händen packte und beschloss, aus der Stadt zu fliehen, schrieb ich als Sechstklässler meinem Vater einen Zettel, auf dem stand, dass wir halt [7] beschlossen hätten, die Stadt für eine Weile zu verlassen und in irgendein Dorf zu gehen, und dass wir, sobald die Deutschen vertrieben worden wären, sofort zurückkehren würden.

Wir kehrten nicht zurück.

Ich möchte daran glauben, dass diese Notiz von mir das Leiden meines Vaters im Vernichtungslager der Nazis gelindert hat, weil sie ihm die Hoffnung gab, dass wir am Leben waren.

Während des gesamten Krieges und in den Nachkriegsjahren schrieben Rosa und ich an verschiedene Behörden, um etwas über das Schicksal meines Vaters zu erfahren. Vergeblich. „In den Listen der Gefallenen, Verwundeten und Vermissten ist Lew Girschewitsch Uljanski nicht aufgeführt", lautete die Standardantwort.

Erst 34 Jahre nach dem Siegessalut erhielt meine Schwester eine Mitteilung vom Roten Kreuz: „... nach Informationen, die dem Polnischen Roten Kreuz vorliegen, verstarb Lew Uljanski, geboren am 6. Dezember 1896 in der Stadt Mogiljow, am 2. November 1944 im Konzentrationslager Mauthausen (Österreich)." (Ich möchte [an dieser Stelle] daran erinnern, dass das Vernichtungslager Mauthausen am 5. Mai 1945 von der 11. Panzerdivision der 3. US-Armee unter dem Kommando von General Patton befreit wurde).

Damit war die schwierige Geschichte der Suche nach meinem Vater beendet. Es war aber nicht der Schlusspunkt, denn wir haben viel dafür getan, dass er, wenn [auch] nicht körperlich, so doch geistig, immer bei uns war.

Ohne auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich nur sagen, dass ich, entgegen der Position des Sowjetischen Roten Kreuzes ([„]... es gibt keine Einzelgräber in Mauthausen, wir wissen nicht, wie Ihr Vater dorthin gekommen ist [“], usw.), ich, ein Jude, ein Oberstleutnant der Reserve, in nicht allzu ferner Vergangenheit stellvertretender Regimentskommandeur für politische Arbeit, nach erheblichen Mühen doch nach Österreich an den Ort reisen durfte, an dem mein Vater den Tod fand.

Und hier gehe ich nun über dieselben Platten des Appellplatzes, auf die [bereits] mein Vater, ein hungriger, kranker, geistig und körperlich erschöpfter Häftling mit der Nr. 86083, mit schweren Schritten getreten ist.

Ich steige die sogenannte Todesstiege hinauf, auf der der erschöpfte Häftling Nr. 86083, mein Vater, schwer atmend schwere Steine schleppte. Hier ist die berüchtigte „Fallschirmspringerwand“, von der die wütenden Faschisten Geistermenschen hinabstießen. Der Filmregisseur Sergei Bondartschuk hat all dies in seinem Film „Ein Menschenschicksal“ [8] äußerst authentisch gezeigt.

Es ist unmöglich zu beschreiben, was in diesem Moment in meiner Seele vorging. In meiner Seele gab es also eine Begegnung mit meinem Vater, die nicht stattgefunden hat. So habe ich das Gedicht genannt, das seinem Andenken gewidmet ist. Es enthält die folgenden Zeilen: 

... Es schien mir, nur ein bisschen noch,

nicht mehr lange, und endlich,

vielleicht erschöpft und krank,

aber ich werde dich finden, Vater.

 

Ich sage es noch einmal, Vater:

Du lebst, du bist für immer bei uns.

Und unseren Enkel haben wir Ljowa genannt.

Möge er viele Jahre lang glücklich sein.

In einem der ehemaligen Lagerblöcke sah ich ein Buch, in das Besucher [9] aus verschiedenen Ländern ihre Eindrücke niedergeschrieben hatten. Ich suche nach Einträgen in russischer Sprache. Ich fand nur einen, der am 2.10.87 vom ehemaligen Mauthausen-Häftling Nikolai Iwanowitsch Wlasow aus Kiew geschrieben worden war. Auch ich hinterließ einen Eintrag: „4.10.87. Mein Vater ist hier gestorben. Hunderttausende von Menschen sind hier gestorben. [Ihr] Menschen, es ist an der Zeit, zur Vernunft zu kommen, hört auf, euch gegenseitig zu vernichten“.

Aber was ist mit „Niemand ist vergessen, nichts wird vergessen“ [10]? Außer dem Standarddenkmal für die „Opfer des Faschismus“ der sowjetischen Regierung und dem Denkmal für General D. Karbyschew gab es kein einziges Zeichen der Aufmerksamkeit und des Gedenkens an einen einfachen Menschen, insbesondere einen Juden.

Damals beschlossen wir im Beisein von Mitgliedern unserer gesamten Familie, eine Gedenktafel für meinen Vater zu errichten [11], was dann auch am 45. Jahrestag seiner Ermordung Wirklichkeit wurde. So entstand im Herbst 1989 im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen die erste und vielleicht bis heute einzige Gedenktafel, die an einen konkreten Menschen aus der ehemaligen UdSSR, einen Juden, meinen Vater, erinnert. Der Fragebogen zu meinem Vater mit der Nummer 25868 befindet sich in der „Halle der Namen“ in der Gedenkstätte [12] Yad Vashem.

Noch einmal fällt mein Blick auf das Foto. Derjenige ganz rechts in der oberen Reihe ist Vaters Bruder - Mosche. Vielleicht hatte Wladimir Wyssozki Menschen wie Mosche im Sinn, als er über diejenigen sang, die „gestern nicht aus dem Kampf zurückgekehrt sind [13]“. Oder Mark Bernes besang ihn in seinen berühmten „Kranichen [14]".

Und es gibt eine kleine Lücke in der Formation.

Vielleicht ist das der richtige Ort für mich...[15] 

Auch das Schicksal von Mosches Familie war tragisch. Seine Frau Raja und seine beiden Töchter wurden von den Nazis auf einen Hinweis von Anwohnern hin lebendig begraben. Ihre einzige „Schuld“ bestand darin, dass sie Juden waren. Wie könnte man sich nicht an Grigori Kanowitsch [16] erinnern, der schrieb, dass wir niemals behaupten werden, dass es nur uns, die Juden, schmerzt. Aber die Wahrheit ist, dass wir nur verletzt wurden, weil wir Juden sind.

Rechts von den Eltern meines Vaters - die ältere Schwester meines Vaters, Chawa, und ihr Mann Ljowa. Ihr ältester Sohn, Juli, fiel ebenfalls an der Front. Der jüngste Sohn, David, wurde von den Nazis in Mogiljow getötet.

In der unteren Reihe des Fotos ist die jüngere Schwester meines Vaters, Vera, zu sehen. Wenn der Rest der Familie Uljanski direkt oder indirekt unter den Nazis litt, so litten Vera und ihre Familie unter den „eigenen Leuten".

Ihr Mann Sinowi (Salman) Schulman stürmte den Winterpalast [17], verteidigte die Revolution im Bürgerkrieg, absolvierte die Militärakademie und diente in der Artillerieabteilung der Roten Armee. Aber ... der Fall M. Tuchatschewski [18] wurde bekannt, und während der Diskussion über seine „Schuld“ wagte es der Militäringenieur S. Schulman, der offiziellen Sichtweise zu widersprechen. Dies reichte aus, um ihn als "Volksfeind" und Vera als Familienmitglied eines "Volksfeindes" zu verhaften.

Sinowi erlebte 1956 seine Rehabilitierung, aber Vera verbrachte etwa vier Jahre in [verschiedenen] Gefängnissen und wurde im Winter 1941 „in Ermangelung eines Straftatbestands“ entlassen.

Während dieser schrecklichen Jahre wurden die beiden kleinen Kinder von Vera und Sinowi von Basia und Riwa in Obhut genommen.

Von den auf dem Foto abgebildeten Kindern lebt heute nur noch Vera.

Daran erinnerte mich das alte Foto.

Und wie viele solcher Fotos werden in jüdischen Familien aufbewahrt, mit ähnlichen oder gleichen Schicksalen der darauf abgebildeten Menschen. Die Ähnlichkeit ihrer Schicksale ist nicht zufällig, denn sie alle sind Söhne und Töchter meines Volkes, das eine schreckliche Schoa [19] erlitten hat.

So sollen sie unsere Verteidiger vor dem Allmächtigen sein.

„Herr, schütze alle Verstorbenen unter dem Schatten deiner Flügel. Binde ihre Seelen in den Knoten des Lebens ein. Tröste die Trauernden, und gib ihnen und ganz Israel großen Frieden" (Psalmen 23.91.130 [20]).

Schon seit 52 Jahren ist mein Vater Lew Uljanski nicht mehr am Leben, aber es gibt seinen Enkel - Lew Uljanski.

Das Leben geht weiter.

 

 

Semjon Uljanski, Semjon Uljanski, Kirjat Ata

überliefert von Ilja Uljanski, Enkel

 

[1] Anm. d. Übers.: Name geändert aufgrund eines Tippfehlers, „Basia“ an anderer Stelle im Text

[2] Anm. d. Übers.: Bezeichnung für jüdische Einwanderer nach Israel

[3] Anm. d. Übers.: das Wort kann sowohl „angebracht“ bzw. „aufgestellt“ bedeute

[4] Anm. d. Übers.: „Jüdische Agentur für das Land Israel“

[5] Anm. d. Übers.: Mahiljou

[6] Anm. d. Übers.: Der Satz enthält kein Verb, so das unklar ist, ob die genannten Personen sitzen oder stehen.

[7] Anm. d. Übers.: gemäß Original, umgangssprachlich

[8] Anm. d. Übers.: https://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Menschenschicksal

[9] Anm. d. Übers.: im Original Touristen

[10] Anm. d. Übers.: Original von Olga Bergholz, https://de.wikipedia.org/wiki/Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, diese Zeile wurde zu einem geflügelten Wort, auch Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen

[11] Anm. d. Übers.: das Wort kann sowohl „anzubringen“ bzw. „aufzustellen“ bedeute

[12] Anm. d. Übers.: im Original Museum

[13] Anm. d. Übers.: Name des Liedes: „Er kehrte nicht zurück aus dem Kampf“ https://lyricstranslate.com/de/%D0%BE%D0%BD-%D0%BD%D0%B5-%D0%B2%D0%B5%D1%80%D0%BD%D1%83%D0%BB%D1%81%D1%8F-%D0%B8%D0%B7-%D0%B1%D0%BE%D1%8F-er-kehrte-nicht-zur%C3%BCck-aus-dem-kampf.html

[14] Anm. d. Übers.: https://de.wikipedia.org/wiki/Schurawli

[15] Anm. d. Übers.: wörtliche Übersetzung von: „И в том строю есть промежуток малый. Быть может, это место для меня...,“ unter https://lyricstranslate.com/de/zhuravli-%D0%B6%D1%83%D1%80%D0%B0%D0%B2%D0%BB%D0%B8-kraniche.html-0: folgende literarische Übersetzung: „Und als ich eine kleine Lücke zwischen den wunderschönen Vögeln entdecke, Denke ich, dies ist vielleicht mein Platz.“

[16] Anm. d. Übers.: litauisch-israelischer Schriftsteller

[17] Anm. d. Übers.: Beginn der Oktoberrevolution 1917 in Leningrad

[18] Anm. d. Übers.: https://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Nikolajewitsch_Tuchatschewski

[19] Anm. d. Übers.: im Original Katastrophe

[20] Anm. d. Übers.: Das Zitat wurde frei übersetzt. Die angegebenen Psalmen haben sowohl im Russischen als auch im Deutschen einen anderen Inhalt als das Zitat. Vermutlich handelt es sich um ein jüdisches Totengebet. https://dewiki.de/Lexikon/Simferopol-Massaker: „Mein Gott, birg im Schatten Deiner Flügel alle Toten. Binde ein in den Bund des Lebens ihre Seelen. Gib Trost den Hinterbliebenen...“

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