Wilmos Wolf Weiss 1895 - 1945 Edit
Born 23.4.1895 in Rónafalu / Schboriwzi
Died 22.5.1945 in Hörsching
Biography
Ich kam in Nagyszőllős[1] zur Welt. Damals lag die Stadt in der Tschechoslowakei, 1939 kam sie zu Ungarn. Ich war ein sehr glücklicher und irgendwie unschuldiger und naiver Junge. Ich lebte wohlbehütet als viertes von fünf Kindern. Ich ging zur Schule, las Bücher und Gedichte, sammelte Briefmarken.
Wenige Monate vor meinem 14. Geburtstag, im Jänner 1944, starb meine Mutter an Krebs. Der Krieg erreichte uns erst wirklich, als im April 1944 alle Jüdinnen und Juden unserer Stadt und viele aus der umliegenden Region ins Ghetto kamen. Wir mussten unser Zuhause, die meisten unserer Habseligkeiten zurücklassen und in einige Räume in einem Haus im Stadtzentrum ziehen. Es gab wenig Essen, und ohne die Hilfe von Freundinnen und Freunden, die Christinnen und Christen waren, hätten wir nicht überleben können. Wir hörten Gerüchte darüber, was uns die Nazis antun würden. Wir wussten, dass der Krieg in Russland nicht gut für die Nazis verlief, aber die Gestapo und andere Nazis in unserer Stadt planten eindeutig etwas.
Ende Mai steckten sie uns in Viehwaggons, die schließlich am 28. Mai in Birkenau ankamen.
Als wir ankamen, teilten sie uns in drei Reihen. Eine für Männer, eine für Frauen und die dritte für Kinder und alte Menschen. Ich war bei meiner kleinen Schwester Icuka und hielt ihre Hand. Ein Häftling, der so etwas Ähnliches wie einen Pyjama anhatte, kam zu mir und sagte, ich solle meine Schwester zurücklassen und zur Reihe der Männer gehen. Er riet mir, ihnen zu sagen, dass ich 17 Jahre alt und Facharbeiter sei und klein für mein Alter. Eine unserer Nachbarinnen, die wir gut kannten, eine alte Dame namens Rosenberg, streckte ihre Arme aus und begrüßte meine kleine Schwester mit den Worten „Icuka, komm’ mit mir.“ Ich ließ meine kleine Schwester los und ging mit meinem Vater in die Männerreihe. Das war das letzte Mal, dass ich meine kleine Schwester sah. Sie war zwölf Jahre alt.
Mein Vater wurde nach Auschwitz gebracht. Alleine im Kinderblock[2], wo ich alle Informationen über die rauchenden Schornsteine und den ungewöhnlichen Geruch im Lager sammelte, verlor ich meinen Glauben an Gott.
Später, am 18. Jänner 1945, als der Krieg für die Deutschen sehr schlecht lief – die Russen rückten von Osten näher und der Krieg im Westen wurde von den Alliierten gewonnen – entschieden die Deutschen, Birkenau und Auschwitz zu räumen. Also begann ich den langen Marsch – gefrorene, schneebedeckte Landschaft und Menschen, die Hunger hatten, wie ich.
Und einmal, nach zwei, drei Tagen des Marschierens, war ich so erschöpft, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Und ich setzte mich in den Schnee, um ein wenig zu rasten. Ich fühlte mich sehr gut, und ich fühlte mich frei. Der SS-Mann hinter der Menschenreihe kam auf mich zu. Ich sah, dass er Bewegungen mit seinem Gewehr machte. Und ich wusste, was mich erwartete. Das war der tiefste Punkt in meinem Leben. Ich entschied, dass das genug war.
Der SS-Mann kommt zu mir, erkennt die Situation, gibt mir einen mächtigen Tritt und sagt: „Los! Du bist zu jung zum Sterben.“ Und ich weiß nicht wie, ich sprang einfach aus dem Schnee auf und begann zu laufen – nicht zu gehen, zu laufen. Das war das zweite Mal, dass ich gerettet wurde. Diesmal von einem SS-Mann.
Nach zwölf Tagen kamen wir in Mauthausen an – vollkommen erschöpft, bis auf die Knochen durchfroren.[3] Vom Zug nahmen sie uns auf Lastwägen mit, da wir nicht gehen konnten. Und sie fuhren uns nach Mauthausen und wir gingen dort hinunter in einen Raum, den sie Waschraum nannten. Und sie drehten die Wasseranlage auf, und überall kam warmes Wasser auf uns herunter. Wir erwarteten Gas. Aber dieses warme Wasser ließ das Leben wieder neu beginnen. Zunächst aßen wir nicht. Wir waren vollkommen ausgetrocknet. Und für einige Minuten wurden wir von diesem Wasser wieder aufgewärmt. Wir begannen also, uns wie neu zu fühlen. Beim Eingang zum Waschraum hatten sie uns unsere Kleider weggenommen. Und zum Schluss bekamen wir neue Kleider. Neue, desinfizierte Kleider.
Am selben Tag traf ich meinen Vater wieder. Es geschah in einer der Baracken, die noch immer stehen. Es stehen hier drei Baracken, Originalbaracken. Die Anordnung in Mauthausen war so, dass die SS möglichst keine Fehler machte. Die Rechnung war also, 200 oder 400 Häftlinge auf jeder Seite der Baracke und der Rest auf der anderen Seite. Sie nahmen mich zur ersten, und dort fehlten drei oder vier Menschen. Der spanische Blockälteste oder Schreiber schrie auf die andere Seite „Schick’ mir vier rüber!“, um die genaue Anzahl zu haben, die zu jedem Appell da sein sollte. Also schickten sie drei oder vier Männer herüber, und einer von ihnen war mein Vater. Und er erkannte mich sofort, und ich erkannte ihn sofort. Und der Zählappell wurde gestört. Mein Vater streckte seine rechte Hand aus und sagte „Mein Sohn, mein Sohn, ich habe mein Sohn gefunden!“ Und die SS, die hinter ihm stand, sagte: „Geh’ und umarm’ ihn“. So wurden wir zur Berühmtheit von Mauthausen, mein Vater und ich.
Es dauerte nicht lange, und wir verließen Mauthausen in Richtung Gunskirchen, dem hintersten Winkel der Erde. Ich glaube, dass die Deutschen dieses neue Lager ab dem 12. März 1945 benützten.[4] Und dieses Lager bestand aus sieben großen Baracken ohne jede Ausstattung. Es gab nichts, absolut nichts. Und in jeder dieser Baracken waren rund 4.000 bis 5.000 Menschen ohne Essen, ohne Wasser. Und Gunskirchen war voller Läuse. Und die Läuse brachten den Typhus. Die Todeszahl am Tag lag bei Hunderten, jeden Tag Hunderte; ich weiß nicht, wie viele es genau waren.
Ich weiß nur, dass die Amerikaner, die das Lager befreiten, später in Büchern darüber geschrieben haben – und es nicht fassen konnten. Wir verließen Gunskirchen und kamen in eine Stadt. Wir brauchten mehrere Stunden. Wir gingen hinein und sie gaben uns Tee. Die Dame, die uns aufnahm, bereitete Tee für uns vor. Es war kein richtiger Tee, denn es gab zu dieser Zeit keinen richtigen Tee in Deutschland. Und wir ruhten für zwei oder drei Tage in ihrem Haus. Mein Vater fand eine Brille, setzte sie auf und – Gott! – er konnte sehen. Sie gab uns sogar die Brille. Es war nicht ihre Brille. Sie gehörte entweder ihrem Vater, ihrem Ehemann oder ihrem Sohn; die waren im Krieg.
Zwei Tage später kamen die Amerikaner, und sie hatten Lautsprecher: „Wir bringen Sie an einen Ort mit medizinischer Hilfe.“ Und wir entschieden uns, auf den Lastwagen zu steigen. Wir landeten in Hörsching, der letzten Basis der Luftwaffe, die in Betrieb war. Sie brachten uns in einen Raum, in dem früher vier deutsche Piloten gewohnt hatten. Wir lagen auf dem Boden. Zwei oder drei Tage später kam jemand herein: „Ihn, nehmt ihn mit.“ „Er“ war ich. Vater war bewusstlos, krank.
In Mauthausen und Gunskirchen fand ich meinen geliebten Vater, nachdem ich in Birkenau von ihm getrennt worden war. Und hier habe ich ihn für immer verloren, als er zwei Wochen nach der Befreiung in Gunskirchen an Typhus und Hunger starb. Er war 50 Jahre alt.
Yitzhak Livnat
Yitzhak Livnat (geboren als Alexander Weiss) ist Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz, Mauthausen und Gunskirchen und Sohn von Wilmos Wolf Weiss. Er lebt in Israel.
Aus dem Englischen von Lukas Neissl
[1] Nagyszőllős, heute Wynohradiw (Виноградів) in der Westukraine, war über Jahrhunderte ein multiethnischer Ort. Andere Namen der Stadt sind Севлюш/Sewljusch (russinisch/russisch), Veľký Sevľuš/Vinohradov (slowakisch), Velká/Velký Sevl(j)uš/Vinohradov (tschechisch), Sejlesch bzw. Söjlesch (jiddisch), Seleușu Mare (rumänisch), Виноградов/Winogradow (russisch, nach 1945) oder Winogradów (polnisch, nach 1945). 1919 Teil der Tschechoslowakei, wurde die Stadt nach der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht als Sammellager für die Deportationen der Siebenbürgener Jüdinnen und Juden benutzt.
[2] Im Text kursiv wiedergegebene Wörter und Sätze sind im englischen Original Deutsch.
[3] Die euphemistisch so genannte Evakuierung von Auschwitz-Birkenau begann zwischen 17. und 23. Jänner 1945. Über 8000 Menschen wurden in Todesmärschen ins KZ Mauthausen deportiert, wo sie zwischen 25. Jänner und 8. Februar 1945 ankamen. Yitzhak Livnat wurde in den Zuganglisten des KZ Mauthausen am 30. Jänner 1945 mit der Häftlingsnummer 125039 als Aleksander Weiss registriert; vgl. Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Y/50/03/15/203–209.
[4] Das Außenlager Wels I bzw. Gunskirchen wurde offiziell am 27. Dezember 1944 von einem „Aufbaukommando“ errichtet. Noch am 9. April befanden sich einer Bestandmeldung zufolge erst 367 Häftlinge in Gunskirchen; Ende April erreichten 17000 bis 20000 ungarische Jüdinnen und Juden das Lager. Vgl. Florian Freund: Gunskirchen (Wels I). In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück (München 2006), S. 368–370.
The town in which I was born was Nagyszőllős.[1] It was in Czechoslovakia, when I was born, and then became Hungary in 1939. I was a very happy and somewhat innocent and naïve boy. I lived in a loving family, the fourth of five children. I went to school, I read books and poetry, and I collected stamps.
In January of 1944 my mother died of cancer a few months before my 14th birthday. The war really arrived at our door when all the Jews in our town and many from the surrounding region were put into the ghetto in April of 1944. We had to leave our home, most of our possessions, and moved into a small group of rooms in a house in the centre of the town. There was little food and without the help of friends who were Christian we would not have been able to survive. We heard rumours of what the Nazis were going to do to us. We knew the war in Russia was not going well for the Nazis but the Gestapo and other Nazis who were in our town clearly were planning something.
In late May they put us on the cattle trains that ultimately arrived in Birkenau on 28 May.
When we arrived, they separated us into three lines. One for men, one for women and the third was children and old people. I was with my little sister Icuka, holding her hand. An inmate dressed in something like pyjamas approached me and told me to leave my sister and go to the men’s line. He told me to tell them that I was 17 and a skilled worker, because I was small for my age. One of our neighbours, whom we knew well, an old lady named Mrs. Rosenberg, opened her arms and welcomed my little sister, saying to her ‘Icuka, come with me’. I let my little sister go and went with my father into the men’s line. That was the last time I was to see my little sister, who was twelve years old.
My father was taken to Auschwitz. Being alone in the Kinderblock (children’s block), collecting all the information about the smoking chimneys and the unusual smell of the camp, I lost my belief in God.
Later, on January 18 1945, when the war was going very badly for the Germans – the Russians were moving in from the east and the war in the west was being won by the Allies –, the Germans decided to empty out Birkenau and Auschwitz. So I began the long march – frozen, snow-covered landscape, and people who were hungry, like myself.
And once, after two, three days of marching, I was so exhausted I could barely move any more. And I sat down in the snow to rest a little bit. I felt very good and I felt free. The SS man who was behind the line of people approached me. I saw he was making moves with his rifle. And I knew what was waiting for me. This was the lowest point in my life. I decided that that was enough.
The SS man comes to me, recognises the scene, gives me a big kick and says ‘Los! You are too young to die.’ And I don't know how, I just jumped up from the snow and started to run – not to go, but to run. That was the second time I was saved. This time by an SS man.
After 12 days, on 27 January, we arrived at Mauthausen – completely exhausted, frozen to the bone.[2] They took us from the train by trucks because we were unable to walk. And they drove us to Mauthausen, and here we went down to what they called the Waschraum. And they opened the water installation, and warm water came out on all of us. We were expecting gas. But this hot water was something that restarted life. First of all, we didn't eat. We were completely dried out. And for some minutes we were re-cooked by this water. So we started to feel ourselves completely new. They took away our clothes at the entrance to the washroom. At the end, we got new clothes. New, disinfected clothes.
On the same day, I met my father again. It happened in one of the blocks which are still there. There are three blocks here, original blocks. The arrangement in Mauthausen was that the SS should be prevented from making mistakes.
So the calculation was 200 or 400 prisoners for one side of the barrack, and the rest on the other side. They took me to the first, and there were three or four people missing. The Spanish either Blockälteste or Schreiber yelled to the other side ‘Send me over four!’, to have the exact number that should be on every Appell (roll call). So they sent over three or four men, and one of them was my father. And he immediately noticed me, and I immediately noticed him. And the Zählappell was disturbed. My father said, pushing out his right hand: ‘Mein Sohn, mein Sohn, ich habe mein Sohn gefunden!’ [‘My son, my son, I have found my son!’]. And the SS was standing behind him and he said, ‘go and hug him’. So we became the celebrity of Mauthausen, my father and I.
It didn't take long and we were leaving for Gunskirchen, which was the lowest point on earth. I think the Germans opened this new camp on 12 March 1945.[3] And this camp was seven huge hangars with absolutely no facilities. There was nothing, absolutely nothing. And in each such hangar were some four thousand to five thousand people with no food, no water. And Gunskirchen was completely full of lice. And the lice brought the typhus. The death count was a hundred a day, every day a hundred, I can't tell exactly how many.
I just know that the Americans, who liberated the camp, wrote about it in books – that they couldn’t understand. We went out from Gunskirchen and to a town. It took us several hours. We went in and they gave us tea. The lady who accepted us prepared tea for us. It wasn't real tea because there was no real tea in Germany at that time. And we rested in her house for two or three days, but we came out with, I came out ... My father found a pair of glasses, put them on his nose and – God! He could see. She even gave us the whole pair of glasses. They were not her glasses – either they were her father’s, her husband’s, or her son’s, they were in the war.
Two days later the Americans came, and they had loudspeakers: ‘We are going to take you to a place where there is medical aid.’ And we decided to go on the truck. We ended up in Hörsching, which was the last operating Luftwaffe base. They put us in a room; four German pilots were there already. We were on the ground. Two or three days later someone comes in, ‘Him, pick him up’. Him was me. Father was unconscious, sick.
In Mauthausen and its subcamp Gunskirchen I found my beloved father, after being separated from him at Birkenau. And it is here that I lost him forever, when he died of typhoid and hunger in Gunskirchen, two weeks after liberation. He was 50.
Yitzhak Livnat
Translation into English: Joanna White
[1] For centuries Nagyszőllős, today Vynohradiv (Виноградів) in western Ukraine, was a multi-ethnic town. Other names for the town are Севлюш/ Syvlyush (Rusyn/Russian), Veľký Sevľuš/Vinohradov (Slovakian), Velká/Velký Sevl(j)uš/Vinohradov (Czech), Seylesh or Selish (Yiddish), Seleușu Mare (Romanian), Виноградов/Vinogradov (Russian, after 1945) or Winogradów (Polish, after 1945). Part of Czechoslovakia in 1919, after occupation by the German Wehrmacht the town was used as an assembly camp for the deportation of the Transylvanian Jews.
[2] The euphemistically termed ‘evacuation’ of Auschwitz-Birkenau began between 17 and 23 January 1945. Over 8,000 people were deported on death marches to Mauthausen concentration camp, where they arrived between 25 January and 8 February 1945. Yitzhak Livnat was registered in the arrivals lists of the Mauthausen concentration camp on 30 January 1945 under prisoner number 125039 as Aleksander Weiss; cf. Archive of the Mauthausen Memorial Y/50/03/15/203–209.
[3] The Wels I or Gunskirchen subcamp was officially erected on 27 December 1944 by a ‘construction detail’. On 9 April, according to a log report (Bestandsmeldung), there were still only 367 prisoners in Gunskirchen; at the end of April 17,000 to 20,000 Hungarian Jews reached the camp. Cf. Florian Freund: Gunskirchen (Wels I). In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (ed.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager [The Site of Terror. History of the National Socialist Concentration Camps]. vol. 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück (Munich 2006), pp. 368–370.
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