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Kurt Dorr 1909 - 1940 Bearbeiten

Geboren 19.4.1909 in Marienwerder
Gestorben 17.2.1940 in Mauthausen

Biografie

Mit dem Stolperstein für Kurt Dorr wird in Dortmund erstmals an die Opfergruppe der sog. Asozialen erinnert. Er geriet wegen seiner Obdachlosigkeit in die Vernichtungsmaschinerie der NS-Regimes. Landstreicherei, Obdachlosigkeit und Bettelei waren damals noch Straftaten. Außerdem war er zweimal wegen des Paragrafen 175 StGB (Verbot von Homosexualität) mit der Polizei in Konflikt geraten. Zum Verhängnis wurde ihm die vom Reichsinnenministerium im April und Juni 1938 zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung initiierte Aktion „Arbeitsscheu Reich“.

Über das Leben von Kurt Dorr ist wenig bekannt. Wir wissen, dass er am 19. April 1909 im westpreußischen Marienwerder geboren wurde. Wann er ins Ruhrgebiet kam, ist nicht überliefert. Jedoch verließen viele Menschen ihre Heimat in den damaligen Ostprovinzen, um im wirtschaftlich aufstrebenden Ruhrgebiet ein besseres Leben führen zu können.

Im Jahre 1937 muss sich Kurt Dorr, der zu diesem Zeitpunkt noch in Bochum am Moltkemarkt 11 als Arbeiter gemeldet war, in Dortmund aufgehalten haben. Durch die Haftbücher des Polizeigefängnisses Steinwache ist belegt, dass er am 22. Februar 1937 wegen Umhertreibens, Paragraf 175 und wegen Mordverdachts festgenommen wurde. Bereits drei Tage später erfolgte seine Haftentlassung. Mit dem Mordvorwurf kann es deshalb nicht weit her gewesen sein, vermutlich diente ein Obdachloser als willkommener Sündenbock für eine solche Tat. Das entsprach dem Kriminalitätsverständnis des Polizeiapparates nicht nur während des Nationalsozialismus.

Eineinhalb Jahre später geriet Kurt Dorr erneut in die Fänge der Polizei. Seine zweite Verhaftung erfolgte am 4. Juni 1938 um 2 Uhr in der Nacht. Zwei Beamte der Dortmunder Sitte hatten ihn mutmaßlich an einem der bekannten Schwulentreffpunkte in der Stadt aufgegriffen. Der Vorwurf lautete „Verdacht § 175 und Bettelei“.

Als Obdachloser passte Dorr in die Aktion „Arbeitsscheu Reich”, in deren Rahmen durch die Kriminalpolizei auf Basis des „Grunderlasses zur Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung” vom 14. Dezember 1937 im April und Juni 1938 mehr als 10.000 Männer als sog. Asoziale in Konzentrationslager verschleppt wurden. Als Asoziale trugen sie im KZ den schwarzen Winkel.

Nach 18 Tagen in der Steinwache wurde Dorr am 22. Juni 1938 „transportiert”, wie es in den Haftbüchern heißt. Im KZ Sachsenhausen bekam er die Häftlingsnummer 5482 und wurde in die NS-Haftkategorie „Asozial“ eingruppiert. Am 25. Januar 1940 wurde er von Sachsenhausen ins österreichische KZ Mauthausen verbracht. Dort bekam er die Häftlingsnummer 2090 und wurde der NS-Haftkategorie AZR [Arbeitszwang Reich] zugeordnet.

Keine vier Wochen später war er tot. Kurt Dorr starb am 17. Februar 1940, nur kurze Zeit vor seinem 31. Geburtstag. Als offizielle Todesursache wurde „Allgemeine Schwäche, Herz- und Kreislaufschwäche” angegeben, doch das ist – wie wir vermuten dürfen – nicht die Wahrheit.

Auf die sonst gültige Regel, den Gedenkstein in der Straße am jeweils letzten freiwilligen Wohnsitz zu verlegen, musste im Falle des obdachlosen Kurt Dorr verzichtet werden. An sein Schicksal wird daher künftig ein Stolperstein vor dem Rathaus der Stadt Dortmund erinnern. Da sich Dorr in seinen letzten beiden Lebensjahren in Dortmund aufgehalten hat, erschien der Platz vor dem Rathaus als angemessene Alternative.

Kurt Dorr ist nicht der einzige Wohnungslose unter den nach § 175 Inhaftierten der Steinwache, doch ist die Verschleppung in ein KZ bisher nur bei ihm nachweisbar.

Anmerkungen

Heute ist in Vergessenheit geraten, dass Landstreicherei, Bettelei, Arbeitsscheu und Obdachlosigkeit einst Straftaten waren, die mit dem Paragrafen 361 des Strafgesetzbuches in seiner Fassung aus dem Jahre 1871 geahndet wurden. Das Gesetz wurde 1933 von den Nationalsozialisten verschärft und blieb bis zur großen Strafrechtsreform im Jahre 1969 auch in der Bundesrepublik erhalten. Gänzlich wurde der Paragraf 361 StGB erst im Jahre 1974 gestrichen.

Kommunen versuchen bis heute, durch Ortssatzung das Betteln unter Strafe zu stellen, etwa für den Bereich ihrer Fußgängerzonen.

Den Höhepunkt der Verfolgung bildete die von den Nationalsozialisten organisierte Aktion „Arbeitsscheu Reich“. Unter dem Deckmantel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung sollten durch Grunderlass des Reichsinnenministeriums vom 14. Dezember 1937 sog. Asoziale verhaftet und in Konzentrationslager deportiert werden. Laut Verordnung galt als asozial, „wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will.“ Im Verständnis des NS-Regimes charakterisierten sich asoziale Personen durch Landstreicherei, Arbeitsscheu, Bettelei, Wohnungslosigkeit, Trunksucht und Prostitution. Im Rahmen von zwei Verhaftungswellen im April und Juni 1938 fielen rund 10.000 Männer der Aktion zum Opfer. Auch in Dortmund beteiligten sich die Polizeibehörden mehr als rege, um geforderte Soll-Zahlen bei den Verhaftungswellen überzuerfüllen. In den Konzentrationslagern waren die Häftlinge an ihrem schwarzen Winkel zu erkennen. Häufig mussten sie härteste Zwangsarbeit (Vernichtung durch Arbeit) in der SS-eigenen Baustoffindustrie, etwa in Steinbrüchen, leisten. Erst in der letzten Zeit sind die sog. Asozialen als Opfergruppe in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. In der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gelten sie bis heute als vergessene Opfer.

 

Dr. Frank Ahland und Manuel Izdebski, Dortmund

 

Danksagung:

Für die freundliche Unterstützung danken wir:

• dem Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen

• dem Stadtarchiv Dortmund

• dem Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Münster

• dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

• Ines Perea, Uwe Rentrop und Dirk Sodenkamp für die Spende zur Finanzierung des Stolpersteins

Quellen:

Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Münster, Bestand K700 Do

Auskunft der Gedenkstätte Mauthausen

Digitales Archiv ITS Bad Arolsen: Teilbestand: 1.1.38.1, Dokument ID: 4093707 – Listenmaterial Sachsenhausen; Teilbestand: 1.1.26.1, Dokument ID: 1319061 und Dokument ID: 1292834 – Listenmaterial Mauthausen

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