Ибраш Крутаевич Кунтаев / Ibrasch Krutaewitsch Kuntaew 1907 - 1944 Bearbeiten
Geboren 25.1.1907 in Krutaya
Gestorben 7.7.1944 in Hartheim
Biografie
Ibrasch Kuntaew wurde am 25. Jänner 1907 in Krutaya, einem Dorf in der Region Kamensk in Westkasachstan, geboren. Er hatte noch zwei Brüder. Die Eltern sowie der mittlere der drei Brüder starben jedoch im Jahr 1921 an der Hungersnot, die im Gefolge des Bürgerkrieges ausgebrochen war. Der ältere Bruder Kaiyrzhan und Ibrasch waren somit Waisen.
In dieser Zeit lebten in Krutaya nicht nur Kasachen, sondern auch russische Kosaken. Ibrasch und Kaiyrzhan waren Arbeiter auf dem Hof des Bauern („Kulaken“) Antip Astrakhankin. Sie bereiteten dort Futter für die Rinder und verrichteten viele weitere Tätigkeiten. Auf diesem Bauernhof lernte Ibrasch Kuntaew auch Russisch sowie Lesen und Schreiben.
Als Kuntaew ins wehrfähige Alter kam, wurde er von der Roten Armee eingezogen und diente bei der Kavallerie. Für seine besonderen Leistungen erhielt er die Auszeichnung „Woroschilows Schütze“. Im Jahr 1932 heiratete er seine zehn Jahre jüngere Frau Shokenai. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: drei Söhne – Kussain (geboren 1934), Serik (geboren 1935), Azamat (geboren 1937) – und die Tochter Altynshash (geboren 1939).
Im Jahr der Eheschließung übersiedelte das Paar in das Dorf Semiglavyi Mar. Kuntaew arbeitete dort für mehrere Jahre als Lagerarbeiter in einem Getreidespeicher. Nachdem in Krutaya die Kollektivierung der Landwirtschaft durchgeführt worden war, kehrte die Familie Kuntaew dorthin zurück. Ibrasch Kuntaew war dort der einzige, der Lesen und Schreiben konnte und die russische Sprache beherrschte. Anfänglich war er als Vorarbeiter einer Feldbrigade tätig, im Jahr 1937 stieg er zum Vorsitzenden der Kolchose in Krutaya auf. Unter der Führung von Kuntaew erzielte die Kolchose große Erfolge und wurde zu einem der Vorzeigebetriebe in der Region.
Es mangelte in dieser Zeit an Arbeitskräften – in Krutaya lebten nur 60 Familien – und daher mussten alle, ohne Rücksicht auf ihr Alter oder Geschlecht, in der Landwirtschaft mitarbeiten. Alle Bewohner von Krutaya waren gleichzeitig auch Mitglieder der Kolchose. Erstmalig im Dorf wurden unter Kuntaews Leitung eine Grundschule in russischer Sprache sowie ein Kindergarten eingerichtet. 1938 erhielt die Kolchose – für dienstliche Zwecke – das erste Auto in der Region.
Der älteste Sohn Kussain erinnert sich noch, wie die Eltern und die anderen Kolchosmitglieder Ende der 1930er- bzw. Anfang der 1940er-Jahre im kleinen Klub der Kolchose den 1. Mai und den 7. November (den Tag der Oktoberrevolution) feierten. Es gab bei diesen Anlässen auch Sportwettkämpfe wie z. B. im Ringen. Kussain hat den Vater als einen starken und mutigen Mann in Erinnerung, der bei Wettkämpfen auf Pferden und Schau-Schwertkämpfen seine besonderen Fähigkeiten zeigte.
In der Kolchose war Kuntaew aufgrund seines Organisationstalents eine besondere Respektsperson. Da der Wohlstand der Kolchose durch seine Leitung stieg, konnten die Mitglieder sogar in die nächste größere Stadt Uralsk, aber auch in die nahegelegenen russischen Städte Samara und Orenburg und sogar nach Moskau fahren, um mit ihrem verdienten Geld Einkäufe zu tätigen.
Das friedliche Leben wurde jedoch vom Zweiten Weltkrieg und dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 unterbrochen. Ibrasch Kuntaew wurde als einer der ersten einberufen. Zuerst schickte man ihn in den Fernen Osten, danach an die Westfront, wo er in einer Kavallerieeinheit an vielen Kämpfen teilnahm. Laut Personalkarte aus dem Kriegsgefangenenlager kämpfte er im Range eines Feldwebels. Von einem Gefecht am 5. August 1943 in der Gegend von Smolensk kam Ibrasch Kuntaew nicht mehr zurück. Diese Information erhielt die Familie kurz danach von einem seiner Kriegskameraden. Später bekam die Familie von den staatlichen Behörden die Benachrichtigung, dass Ibrasch Kuntaew vermisst werde. Bis zum Jahr 2009 wusste die Familie nichts über sein wahres Schicksal.
Die vielen Versuche, bei regionalen und überregionalen Behörden sowie bei individuellen Archivrecherchen weitere Informationen zu erlangen, blieben ohne Erfolg: Man wusste überall nur, dass Ibrasch Kuntaew als vermisst gemeldet war. Im Jahr 2009 fand jedoch einer seiner Urenkel, Bakhtiyar, im Internet unter den Häftlingen des KZ Mauthausen den Namen Ibrasch Kuntaew. Zusammen mit den Gedenkstätten in Mauthausen und Hartheim konnte in der Folge das Schicksal Ibrasch Kuntaews in seinen Grundzügen geklärt werden. Er dürfte in den Kämpfen um Smolensk gefangen genommen worden sein – unter welchen Umständen, ist nicht bekannt. Ebenso weiß man nichts genaues über die Monate danach, außer dass sich Kuntaew im Kriegsgefangenenlager Kaisersteinbruch (Stalag XVII A) (in der Gemeinde Bruckneudorf im heutigen Burgenland) befunden hatte. Von dort wurde er am 8. März 1944 aus unbekannten Gründen in das KZ Mauthausen eingewiesen. Am 25. März 1944 überstellte man Kuntaew in das Außenlager Ebensee, von wo er an einem unbekannten Tag in das „Sanitätslager“ nach Mauthausen zurückgebracht wurde. Er dürfte also krank, völlig erschöpft oder verletzt gewesen sein.
Offiziell starb Ibrasch Kuntaew am 6. November 1944 im KZ Mauthausen an „Kreislaufschwäche“. Dieses Sterbedatum sowie die Todesursache entsprechen jedoch nicht der Realität, sondern sind Fälschungen, die aus Gründen der Verschleierung von der SS-Verwaltung vorgenommen wurden. Ibrasch Kuntaew wurde in Wirklichkeit nach Schloss Hartheim gebracht und dort mittels Gas ermordet – und dies aller Wahrscheinlichkeit nach bereits am 7. Juli 1944. Um die Vernichtungstransporte nach Hartheim zu tarnen, wurden nämlich die Todesfälle nicht am selben Tag beurkundet, sondern über einen längeren Zeitraum verteilt. Aufgrund von Zeugenaussagen sowie von Dokumenten, die von Häftlingsfunktionären in Mauthausen angelegt wurden, lässt sich in Kuntaews Fall der wirkliche Todestag im Juli 1944 verorten.
70 Jahre danach wussten nun seine Kinder, Enkel und Urenkel die Wahrheit über das Schicksal des sowjetischen Soldaten, Vaters und Großvaters, der bei der heldenhaften Verteidigung seines Heimatlandes gefangen genommen und nach den Folterungen im Konzentrationslager durch die Hand der Faschisten fiel.
Im Juni 2011 konnte ich schließlich im Rahmen einer Geschäftsreise nach Italien die KZ-Gedenkstätte Mauthausen besuchen. Ich besichtigte dort ein Denkmal für die verstorbenen Sowjetsoldaten und fuhr auch nach Hartheim, wo sich die sterblichen Überreste meines Urgroßvaters befinden. Bei diesen Besuchen sprach ich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten über den geplanten Besuch meiner Familie sowie über die Anbringung einer Gedenktafel.
Die Gedenkstätten in Mauthausen und Hartheim leisteten große Unterstützung, auch bei der Planung der Familienreise nach Österreich. Die österreichische Botschaft in Kasachstan wurde kontaktiert und eine offizielle Einladung übersandt. Es ist bekannt, wie schwierig es für ältere Menschen ist, ein Visum zu bekommen – der älteste Sohn Kussain war damals 77 Jahre alt, die Tochter Altynshash und ihr Mann Amangeldy waren 72 Jahre alt.
Im August 2011 kam schließlich der lang ersehnte Tag für Ibrasch Kuntaews Nachkommen.
Sein ältester Sohn Kussain, seine Tochter Altynshash und deren Ehemann Amangeldy sowie ich, die Urenkelin, besuchten die Gedenkstätten in Mauthausen und Hartheim. Das Gefühl bei diesem derart lang ersehnten Besuch an diesen Orten mit der dahinterstehenden, ergreifenden Geschichte, kann man mit Worten kaum beschreiben!
Ibrasch Kuntaews Kinder brachten in Hartheim eine Gedenktafel mit seinem Namen und seinem Bild an. Sie nahmen auch Erde von der Grabanlage nach Kasachstan mit und führten eine rituelle „Wiederbestattung“ nahe des Grabes seiner Frau Shokenai in Krutaya durch.
Es gibt auch eine Gedenkstätte in der Stadt Uralsk (Kasachstan), in der die Soldaten geehrt werden, welche an der Verteidigung ihres Landes teilnahmen oder dabei fielen. Ihre Namen – auch jener von Ibrasch Kuntaew – sind dort in Granit eingemeißelt.
Kuntaews Frau Shokenai, die mit den vier Kindern in Krutaya zurückgeblieben war, wartete auf ihren Mann und starb im Jahr 1999 mit 83 Jahren in ihrem Heimatdorf, ohne dass sie vom genauen Schicksal ihres Ehemannes erfahren hatte. Sie meisterte alle Bürden des beschwerlichen Lebens nach dem Krieg, und trotz der Schwierigkeiten zog sie ihre vier Kinder groß. Mittlerweile umfassen die Nachkommen des Ehepaars Kuntaew neun Enkel, elf Urenkel und vier Ur-Urenkel.
Ewiges Andenken an alle Opfer der faschistischen Konzentrationslager!
Sholpan Makhimova
Sholpan Makhimowa ist die Urenkelin von Ibrasch Krutaewitsch Kuntaew. Im August 2011 reiste sie mit Ibraschs Sohn Kussain Kuntaew und seiner Tochter Atynshash Mussagaliyeva sowie deren Mann Amangeldy Mussagaliyev von Kasachstan nach Österreich, um die Gedenkstätten Mauthausen und Hartheim zu besuchen und dort eine Gedenktafel für ihren Vater und Urgroßvater anzubringen.
Aus: Florian Schwanninger/Irene Zauner-Leitner (Hg.): Lebensspuren. Biografische Skizzen von Opfern der NS-Tötungsanstalt Hartheim (Innsbruck/Wien/Bozen 2013), S. 139–149.