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Wilhelm Engele 1894 - 1939 Bearbeiten

Geboren 7.7.1894 in Innsbruck
Gestorben 18.1.1939 in Mauthausen

Biografie

Am Abend des 3. April 1937 erstattete Imelda Gründlinger, Schwester-Oberin in der Krankenfürsorge Innsbruck, Anzeige bei der Bundespolizeidirektion Innsbruck. Ein „Mann, der sich ‚Engele‘ genannt habe“, so die Oberschwester, sei in der Krankenfürsorge erschienen. „Als ich nach kurzer Zeit in das Büro kam, ersuchte mich der Mann, der angeheitert war um eine Unterstützung bezw. um eine Hose. Da ich mich mit dem Manne infolge seines angeheiterten Zustandes in keine weitere Debatte einlassen wollte, fertigte ich ihn ziemlich rasch ab und veranlasste, dass er sich wieder entfernte. Gegen 20 Uhr bemerkte ich sodann, dass mir eine kleine Weckeruhr, die ich im Büro auf einem Kasten stehen hatte[,] fehlte.“[1]

Nach Beschreibung des Täters, so die Bundespolizeidirektion Innsbruck in ihrem Protokoll, sei anzunehmen, dass es sich „in der Person des Unterstützungsbewerbers um den h.a. bekannten Wilhelm Engele handeln dürfte und war diesem der Diebstahl der Uhr auch ohne weiteres zuzumuten.“[2] Engele, bald verhaftet, habe die Tat zunächst geleugnet, schließlich aber gestanden, die Uhr um sechs Schilling an einen Uhrmacher verkauft zu haben – zum damaligen Zeitpunkt in etwa dem Gegenwert von sechs Arbeitsstunden eines ungelernten Arbeiters entsprechend (Eder, 2003, p. 205). Ein Innsbrucker Juwelier schätzte den Wert der Weckeruhr als Sachverständiger auf 15 Schilling, die Schwester-Oberin, der die Uhr bald zurückgegeben wurde, schloss sich dem Strafverfahren nicht mehr als Privatbeteiligte an und Engele zahlte dem Uhrmacher die sechs ausbezahlten Schillinge zurück. Die Wege der Justiz nahmen dennoch ihren Lauf: Die Staatsanwaltschaft stellte Strafantrag.[3] Nach der Hauptverhandlung am 27. April 1937 wurde Engele schließlich wegen Diebstahls (d.h. des Verstoßes gegen die §§ 171 und 176 Ib des österreichischen Strafgesetzes von 1852), zu sechs Monaten schwerem Kerker verurteilt. Sein umfassendes Geständnis und seine Anheiterung zur Tatzeit[4] wurden dabei strafmildernd, mehrere Vorstrafen, die für das Gericht einen „wiederholten und raschen Rückfall“ verdeutlichen würden, hingegen erschwerend berücksichtigt.[5] Engele war bereits 22-mal verurteilt worden, meist wegen Bettelei oder Landstreicherei, zweimal aber auch wegen des Verbrechens des Diebstahls.[6]

Nach Ende der Hauptverhandlung, zu der er bereits mit zwei weiteren Uhren erschienen war, die er seinem Zimmergenossen entwendet hatte, begab sich Engele in ein Wirtshaus, um diese beiden Uhren zu verkaufen.[7] Die weitere Entwicklung, zitiert nach seinem Vernehmungsprotokoll: „Ich bin dann zum Landesgericht in Innsbruck gegangen, wo ich eine Verhandlung wegen Diebstahls hatte. Dort habe ich vom Ober-Landesgerichtsrat Hohenleitner 6 Monat [sic] Kerker bekommen und sollte am 28.4.1937 die Strafe antreten. Nach der Verhandlung habe ich mich in die Stadt begeben und bin am Nachmittag in das Weinhaus Weger gegangen und wurde dort verhaftet. In dem Weinhaus Weger, vor meiner Verhaftung, habe ich mir schon gedacht, ich werde am Abend wieder in meine Wohnung zurückgehen und dem Recheis die Uhren und die Aktentasche zurückstellen, weil ich am nächsten Tage (28.4.) doch zur Verbüssung der 6 Monate Kerker in das Gefangenenhaus in Innsbruck gehen werde. Ich beabsichtigte auch, wenn ich nicht verhaftet worden wäre, mit dem Zwangspass[8] mich noch im Laufe des Nachmittags bei [sic] Stadtgemeinde in Innsbruck zu stellen. Ich habe die Diebstähle nicht aus Not, sondern aus Unüberlegtheit begangen.“[9]

Nach fernmündlicher Anfrage des verblüfften Vernehmungsbeamten beim Landesgericht Innsbruck, ob Engele denn „tatsächlich zu einer Kerkerstrafe von 6 Monaten verurteilt wurde“, bestätigte sich, dass er „sofort einzuliefern“[10] sei. In der Hauptverhandlung vom 18. Mai 1937, in der er zu einem Monat schweren Kerkers verurteilt wurde, gestand Engele erneut, bestritt aber, mit Absicht gestohlen zu haben: „Ich gebe auch zu, die Uhren an mich genommen zu haben. Jedoch hatte ich nicht die Absicht, sie mir anzueignen, vielmehr wollte ich sie einem Bekannten zeigen und ihn fragen, wieviel er hierfür biete. Die Uhr nahm ich zu mir noch vor der letzten Strafverhandlung.“[11]

Am 29. November 1937 hatte Engele seine Haftstrafen verbüßt. Am Abend des 13. Juni 1938, wenige Monate nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wurde er dennoch – ohne neuerlich ein strafrechtlich relevantes Delikt begangen zu haben – von der Kriminalpolizei festgenommen und ins Polizeigefängnis Innsbruck gebracht. Mit Dutzenden anderen wurde er am Morgen des 15. Juni 1938, zwei Tage nach seiner Verhaftung, zunächst ins Konzentrationslager Dachau deportiert[12] und von der dortigen SS am 23. August 1938 mit dem zweiten Transport in das KZ Mauthausen nahe Linz überstellt. Das KZ Mauthausen, von Gauleiter August Eigruber medienwirksam als Errungenschaft für ostmärkische „Systemgauner“ gepriesen (vgl. Fabréguet, 1998; Freund/Perz, 2006), war im Eiltempo geplant und erst kurz zuvor errichtet worden. Bis ins Jahr 1939 hinein wurden in dieses Lager ausschließlich Personen deportiert, die wie Engele von der Kriminalpolizei verhaftet worden waren und in den Konzentrationslagern mit der Haftkategorie „Polizeiliche Sicherungsverwahrung“ („PSV“) oder „Berufsverbrecher“ („BV“) in den Lagerdokumenten geführt wurden. Engele starb fünf Monate nach seiner Einlieferung ins KZ Mauthausen am 18. Jänner 1939 um 2:00 Uhr morgens an „Herz- u. Kreislaufschwäche“, wie der SS-Standortarzt des KZ Mauthausen in einem penibel geführten „Totenbuch“ unter der laufenden Nummer 5 vermerken ließ.[13] Etwa 90.000 Menschen aus ganz Europa sollten ihm als Opfer des KZ Mauthausen folgen.

Engeles Fall war kein tragisches Einzelschicksal, sondern vielmehr ein typisches Beispiel eines nach Mauthausen deportierten „Berufsverbrechers“. Wie Engele waren unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich hunderte Menschen einzig wegen ihrer Vorstrafen in das KZ Dachau deportiert worden. Sie hatten kein Delikt begangen, waren von keinem Gericht strafrechtlich verurteilt, sondern von der Kriminalpolizei in Vorbeugungshaft genommen worden. Allein von 1. April bis 31. Oktober 1938 wurden insgesamt 3.755 Menschen aus Österreich ins KZ Dachau deportiert, von denen 1.296 „Vorbeugungshäftlinge“ waren. Wie Wilhelm Engele wurden schließlich hunderte dieser sogenannten „Berufsverbrecher“ ins KZ Mauthausen überstellt und dort ermordet. Von 4.234 Menschen, die die Lager-SS des KZ Mauthausen als „Berufsverbrecher“ kategorisierte, starben 1.572 (das sind 37,1 Prozent) in diesem Lagerkomplex (Kranebitter 2014, S. 187). Aus Österreich stammten dabei zumindest 882 Personen von allen, d.h. etwa 20 Prozent aller „Berufsverbrecher“ und etwa 17 Prozent aller österreichischen Deportierten des KZ Mauthausen.

 

Andreas Kranebitter

Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen 

 


Referenzen:

[1] Bundes-Polizeidirektion Innsbruck, Sicherheitsbüro-Kriminalabteilung, Meldung vom 3.4.1937, Bl. 1 (Amt der Tiroler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv [fortan TLA], LG Innsbruck, 6 Vr 901/37).

[2] Ebd., Bl. 2.

[3] Strafantrag der Staatsanwaltschaft, 6.4.1937, St 1730/37, 6.4.1937 (TLA, LG Innsbruck 6 Vr 901/37).

[4] Engele: „Ich habe die Weckeruhr gestohlen. Ich hatte einen Kriegskameraden getroffen, der mir ein paar Viertele zahlte, die mich etwas betrunken machten. Ich wusste dann nicht mehr, was ich tat.“ (Protokoll der Hauptverhandlung, 27.4.1937 [TLA, LG Innsbruck 6 Vr 901/37]).

[5] Urteil Bundesstaat Österreich gegen Wilhelm Engele, 27.4.1937 (TLA, LG Innsbruck 6 Vr 901/37), Bl. 2.

[6] Vorstrafenverzeichnis der Strafvollzugsanordnung des Landesgerichts Innsbruck, 27.4.1937 (TLA, LG Innsbruck 6 Vr 901/37).

[7] Vgl. TLA, LG Innsbruck 6 Vr E 1203/37.

[8] Nach dem österreichischen Schubgesetz (SchubG) von 1871 wurden „aus der Haft tretende Sträflinge“ mittels „Zwangspasses, also gebundener Marschroute, oder mittels Schubes, d.h. der zwangsweisen Beförderung unter Begleitung von Wachorganen“ (Reiter-Zatloukal, 2000, p. 221) in ihre Zuständigkeitsgemeinde abgeschoben.

[9] Bericht der Bundespolizeidirektion Innsbruck, Sicherheitsbüro-Kriminalabteilung, 28.4.1937 (TLA, LG Innsbruck 6 Vr E 1203/37), Bl. 2f.

[10] Ebd., Bl. 3.

[11] Protokoll der Hauptverhandlung, 18.5.1937 (TLA, LG Innsbruck 6 Vr E 1203/37), Bl. 2.

[12] TLA, Bundespolizeidirektion Innsbruck, Polizeigefängnis Innsbruck, Haftkartei, Karton 5: DENGG–E. Engele war einer von wenigen am 15. Juni 1938 nach Dachau Deportierten, die bereits am Abend des 13. Juni von der Kriminalpolizei festgenommen worden waren. Dutzende Menschen wurden, wie sich über die in Haftkartei notierten Uhrzeiten der Verhaftung feststellen lässt, erst im Laufe des 14 Juni ab 5:00 Uhr Früh im Halbstundentakt ins Polizeigefängnis Innsbruck eingeliefert.

[13] Totenbuch des SS-Standortarztes Mauthausen (Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Y/46).

 

Literatur:

Eder, Franz X. (2003): Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert in Wien. In: Franz X. Eder et al. (Hg.): Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum. Innsbruck/Wien/München: Studien-Verlag, S. 201–285. 

Fabréguet, Michel, (1998): Entwicklung und Veränderung der Funktionen des Konzentrationslagers Mauthausen 1938–1945, in: Ulrich Herbert/Christoph Dieckmann/Karin Orth (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band 1. Göttingen: Wallstein, S. 193–214.

Freund, Florian/Perz, Bertrand (2006): Mauthausen - Stammlager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück. München: C.H. Beck, S. 293–346.

Kranebitter, Andreas (2009): Der Steinbruch „Wiener Graben“ und die Einrichtung des KZ Mauthausen, in: BM.I (Hg.): KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2008. Forschung, Dokumentation, Information. Jahrbuch der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Wien: Bundesministerium für Inneres, S. 58–73.

Kranebitter, Andreas (2015): Zahlen als Zeugen. Soziologische Analysen zur Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen, Mauthausen-Studien, Band 9. Wien: new academic press.

Reiter-Zatloukal, Ilse (2000): Ausgewiesen, abgeschoben: Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Peter Lang.

 

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